Der Placebo-Effekt ist nicht neu. Eine seiner ersten Erwähnungen fand er im Jahr 1772. Der schottische Arzt William Cullen definierte den aus dem lateinischen abgeleiteten Begriff („ich werde gefallen“) in seinem Werk „First Lines of the Practice of Physic“ in dem Sinne, dass ein Medikament verabreicht wird, um den Patienten zu beruhigen, obwohl es keine therapeutische Wirkung hat.
Heute, nahezu 250 Jahre später, nutzt man Placebos noch immer. Sowohl bei der Entwicklung von Pharmaprodukten (für Probanden) als auch im praktischen Einsatz.
Das weiß auch Prof. Dr. Manfred Schedlowski, Leiter der Medizinischen Psychologie und Verhaltensimmunbiologie am Universitätsklinikum Essen. Im Gespräch mit der „BILD am Sonntag“ sagte er: „Es gibt nicht DEN Placebo-Effekt, sondern viele.“
Dabei spielen psychologische und neurobiologische Mechanismen eine wichtige Rolle. Im Fall von Schmerzen kann das Gehirn durch den Placebo-Effekt tatsächlich die Schmerzempfindung verringern. Folgende Mechanismen tragen dazu bei:
Erwartungshaltung
Wenn eine Person glaubt, dass sie ein wirksames Schmerzmittel eingenommen hat, aktiviert diese Erwartung bestimmte Bereiche im Gehirn, die mit Schmerzmodulation und Belohnung verknüpft sind. Diese Aktivierung kann zur Freisetzung von Endorphinen führen, körpereigene Schmerzmittel, die die Schmerzempfindung verringern.
Konditionierung
Durch frühere Erfahrungen kann das Gehirn lernen, auf bestimmte Reize (wie das Einnehmen einer Tablette) mit physiologischen Veränderungen zu reagieren.
Wenn eine Person wiederholt eine Schmerzreduktion nach der Einnahme eines Medikaments erlebt hat, kann allein der Akt der Tabletteneinnahme in der Zukunft ähnliche Effekte auslösen, auch wenn die Tablette keine wirksamen Inhaltsstoffe enthält.
Neurobiologische
Veränderungen
Studien haben gezeigt, dass der Placebo-Effekt reale Veränderungen im Gehirn hervorrufen kann. Funktionelle Bildgebungstechniken haben gezeigt, dass der Placebo-Effekt mit einer Aktivierung von Gehirnregionen verbunden ist, die an der Schmerzhemmung beteiligt sind.
Der Placebo-Effekt
in Szenenform
Stellen wir uns doch mal die Frage, was im Gehirn passiert, wenn man ein Placebo einnimmt?
1. Der Anblick der Tablette und das Wissen, dass sie eingenommen wird, aktivieren das Erwartungssystem im Gehirn.
Das Gehirn beginnt, eine mögliche Schmerzlinderung oder Heilung zu erwarten. Dies geschieht hauptsächlich im präfrontalen Kortex, der an der Planung und Entscheidungsfindung beteiligt ist.
2. Die Bewegung und der Akt des Einnehmens verstärken die Erwartungshaltung. Der präfrontale Kortex und das Belohnungssystem verstärken positive Erwartungen.
3. Das Schlucken der Tablette und der physische Akt des Einnehmens können konditionierte Reaktionen im Gehirn auslösen. Das Gehirn verbindet diesen Akt mit vorherigen positiven Erfahrungen mit Medikamenten. Das Belohnungssystem wird aktiviert und es kommt zu einer Ausschüttung von Neurotransmittern wie Dopamin, die ein Gefühl des Wohlbefindens und der Schmerzreduktion hervorrufen.
Nun setzt das Gehirn Endorphine (körpereigene Schmerzmittel) frei. Diese Endorphine können die Schmerzempfindung verringern, indem sie die Aktivität in schmerzverarbeitenden Regionen des Gehirns verändern.
4. Das Placebo ist geschluckt. Und nun? Die Aktivierung des Belohnungssystems und die Freisetzung von Endorphinen führen zu einer tatsächlichen Verringerung der Schmerzempfindung. Dies wird durch Rückkopplungsschleifen verstärkt, bei denen das Gehirn weiterhin positive Signale sendet, die den subjektiven Eindruck der Schmerzlinderung unterstützen.
Der „Nocebo-Effekt“
Prof. Dr. Manfred Schedlowski sagt, dass eine Placebo-Therapie auch „Nebenwirkungen“ haben kann: „Experimente (…) haben gezeigt, dass eine negative Behandlungserwartung bei den Patienten sogar die Wirksamkeit eines starken Schmerzmittels nahezu aufheben kann.“
Könnte das bedeuten, dass das Gehirn nicht immer auf das Prinzip in der Tablette reagiert? Die Frage möchten wir gerne mal so im Raum stehen lassen.