Ein Vogel ist frei; Luft sein Element. Er fliegt (oft) ohne Ziel, sanft getragen von seinen Flügeln, bewegt sich fröhlich von hier nach dort, frisst, wenn er Hunger hat und ruht, wenn er müde ist. Und stirbt auch irgendwann; in Ruhe. Denn er ist Teil des natürlichen Kreislaufs Leben.
Der Mensch – auch er ist Teil der Natur. Die Hochtechnisierung jedoch, sie lässt uns meist vergessen, dass wir uns aus der Natur und über Jahrtausende durch sie und mit ihr entwickelt haben. Mit Beginn der Industrialisierung (in Deutschland etwa ab 1820) wurde der Mensch zu dem Produkt „Arbeitskraft“ – zu einem monetär entlohnten Rädchen eines Mechanismus‘, der bis heute für Wohlstand sorgt. Doch was bringt uns all dieser Wohlstand, wenn wir dafür immer mehr unsere Natürlichkeit aufs Spiel setzen müssen. Was bringt uns Wohlstand, wenn wir unserer künstlich geschaffene (Um-)welt mehr Bedeutung beimessen: Enormer Arbeitsdruck, Termine en masse, ständige wechselnde Schichtarbeit zu allen Tages- und Nachtzeiten?
„Haben wir vergessen, dass wir in unserer körperlichen Dimension Teil der Natur geblieben sind?“, fragt sich Dr. Wolfgang Sattler, Facharzt für psychotherapeutische Medizin (Kneipp-Journal, Januar/Februar 2016, „Work-Kneipp-Balance“) und appelliert im Sinne von Sebastian Kneipp, dass es an der Zeit sei, ein „psychosoziales Umweltbewusstsein“ zu entwickeln.
Gleichgewicht finden zwischen
Arbeit und Lebensweise
Der bayerische Priester und Hydrotherapeut Sebastian Kneipp (1821 – 1897) wusste schon vor 125 Jahren, dass die ansteigende Hektik der Industrienation der Menschheit nicht gut tun kann. Deshalb an dieser Stelle ein langes Zitat aus einem seiner Vorträge (S. Kneipp, Riedel G.: S. 79):
„Kaum irgendein Umstand kann schädlicher auf die Gesundheit wirken als die Lebensweise unserer Tage, ein fieberhaftes Hasten und Drängen aller im Kampfe um Erwerb und sicherer Existenz … Es ist kein Wunder, wenn Krankheiten so viele Opfer fordern, denn die Menschheit ist von der früheren, einfachen, natürlichen Lebensweise abgewichen. Nicht etwa, daß die Errungenschaften unserer Zeit wieder geopfert werden müßten, aber es muss ein Ausgleich gefunden werden, um die überanstrengten Nerven zu stärken, ihre Kraft zu erhalten; es muss ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Arbeit und Lebensweise – und dem Verbrauch auch der Nervenkraft.“
Erstaunlich modern – oder?
War die Aussage von Kneipp eher allgemein gefasst, so hat die moderne Gesellschaft dafür heutzutage entsprechend Begriffe definiert: Psychische Störungen etwa, oder auch Burnout-Syndrom, Mobbing und Depression.
Weniger „Frieden und Wohlsein“ bestimmen das Arbeitsleben, sagt Dr. Wolfgang Sattler. Vielmehr bestehe das Leben nur noch aus „ständiger Konfliktspannung zwischen der Angst um den Arbeitsplatz und der Notwendigkeit, bis zur Grenze der Belastbarkeit“.
Im Grunde ist der Mensch ja ein Gewohnheitstier. Doch selbst die stärkste Person hält den überhand nehmenden negativen Strömungen nicht stand; auch nicht mit Hilfe der Erfindung Medikament, die produziert wird, um dem Menschen den Aufenthalt in dessen künstlichen Umwelt so angenehm wie möglich zu gestalten. Sie hält uns temporär auf Spannung, gibt uns allerdings nicht das zurück, was wir in unserer natürlichen Umgebung von der Natur, von der natürlichen Umwelt quasi geschenkt bekommen könnten.
Wir müssen den Weg zurückfinden in die Natürlichkeit. „Um leistungsfähig und gesund zu bleiben bedürfen wir derer Umweltreize, die ursprünglich dazu beigetragen haben, dass sich unsere Gestalt und die Funktionen unserer Organe entwickelt haben“, betont Dr. Sattler. Er plädiert, uns der „Schwerkraft der Erde“ entgegenzusetzen, indem wir uns bewegen. Unser Körper brauche Reize wie Wärme und Kälte. Auch Sonnenlicht, um Vitamin D herzustellen.
Schon mal den Strom abgestellt? Die Internet-Verbindung gekappt? Das Telefon ausgeschaltet? Termine abgesagt? Zu Fuß gegangen und nicht mit dem Auto gefahren? Vielleicht den Fernseher abgesteckt? Sicher: Es geht nicht immer, weil die Straße des modernen Erfolgs kaum Abzweigungen kennt. Und man muss auch nicht wie Kneipp täglich durch Wasser schreiten. Aber, so Dr. Sattler, man solle sich ab und an an sein „biologisches Erbe“ erinnern und Alternativen finden zum 24-StundenStress-Kreislauf.
So wie der Vogel im Wind, dessen Flug keine Grenze kennt.
Text: Rainer Wittmann – Foto: Aldo Callegaro