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Trägheit wird nicht technisch überwunden
Trägheit wird nicht technisch überwunden. Foto: (c) LMproduction - fotolia.com

Selbstanalyse: Trägheit wird nicht technisch überwunden

In sozialen Netzwerken kann man es regelmäßig beobachten: „7,2 Kilometer in 45 Minuten gelaufen“ oder „400 Kalorien verbrannt“. So oder so ähnlich lauten die Statusmeldungen, nachdem der lokale Datenerfasser am Handgelenk oder am Oberarm alle möglichen Informationen über den „User“ ins Internet geschickt und ausgewertet hat.  „Cool“ kommentieren die einen, andere senden einen Smiley und ermuntern in virtueller Form, weiterzumachen. Selbstanalyse.

Einige machen auch weiter, jedoch stellt so mancher schockiert fest, dass er zwar einen interessanten Gimmick am Körper trägt, sich aber wohl an die Marketing-Maschinerie verkauft hat. Wofür? Für ein wenig virtuellen Zuspruch und vermeintliche Aufmerksamkeit, weil man seinen inneren Schweinehund überwindet und für alle sichtbar etwas für seine Gesundheit macht? Oder glaubt man wirklich den Werten und Vorschlägen, die die digitalen Produkte ausspucken?

Die „Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin“ (DZSM), schrieb dazu erst vor kurzem, dass Kritiker die „Verobjektivierung“ des Körpers bemängelten, was „zu einer Entfremdung von der Intuition“ führe. Der Mensch verließe sich immer weniger auf sein Körpergefühl, überließe vielmehr die Entscheidung über Körper und Geist Datenbanken und standardisierten Analyse-Programmen.

11.000 Schritte am Tag? Und
dabei arbeitet die Frau im Sitzen.

Kleine Anekdote am Rande: Eine Frau soll laut ihrer Analyse-Uhr am Tag durchschnittlich 11.000 Schritte gegangen sein. Dabei arbeitet sie im Sitzen und kann gar nicht umgerechnet siebeneinhalb Kilometer gegangen sein. Die Lösung: Die Uhr hat jede Handbewegung gezählt und damit das Analyse-Ergebnis wohl doch etwas verfälscht.

Aber von vorne. Worum geht es? Es geht um die neue Modeerscheinung „Selbstvermessung“ (Zitat: DZSM) oder auch Selbstanalyse. Man kauft sich eine Art Uhr, die über Bluetooth mit einem Smartphone verbunden ist, auf dem eine Software installiert ist, die alle Bewegungs- und Körperdaten speichert. Dass diese Daten in große Datenbanken weiter geschickt werden interessiert anscheinend niemanden. Nun gut. Inwieweit man „Body-Sponsoring“ betreiben, seinen Körper verkaufen möchte, muss jeder für sich selbst entscheiden. Die für Sicherheitssoftware bekannte Firma „Symantec“ jedenfalls schrieb in einer Studie, dass eine Vielzahl von Self-Tracking-Geräten und -Anwendungen Sicherheitslücken aufwiesen. Angeblich alle untersuchten Aktivitäts-Tracker könnten „zur Standortüberwachung missbraucht“ werden.

Unabhängig dieser rein datentechnischen Bedenken äußern Experten weitaus gravierende. Eines etwa, dass man nicht mehr seinem Körper sondern eher objektiven Daten vertraue, das Gefühl für körperliche Signale selbst verlerne. „Befürworter der Quantified-Self-Bewertung hingegen betonen“, so Dr. Christine Hutterer im DZSM, „dass detaillierte Kenntnisse über den Körper den Weg zu wahrer Individualität überhaupt erst ermöglichen.“

Wer hat nun Recht? Allgemein, so Dr. Hutterer, scheine sich zu bestätigen, dass die „treibende Kraft“ für die Technisierung der eigenen Fitness der Wunsch sei, „in kurzer Zeit und mit wenig Aufwand einen fitten, gesunden und gut aussehenden Körper zu bekommen“. Klappe es mit der einen App nicht, nehme man einfach die nächste, weil‘s mit der ganz sicher funktionieren wird. „Selbstvermessungs-Hopping“ nenne das Dr. Karolin Kappler, Soziologin an der Fernuniversität in Hagen, und zweifle daher an der Nachhaltigkeit der Methoden. Statistiken nach zu urteilen hörten viele innerhalb von sechs Monaten wieder auf mit Selbstüberwachung. Deshalb, so. Dr. Hutterer, weil es trotz Technisierung nicht funktioniere, den „inneren Schweinehund dauerhaft zu überwinden und eine Verhaltensänderung umzusetzen“. Dr. Daniel Gärtner, Sportwissenschaftler an der TU München, kritisiert zudem, dass virtuelle Fitnessprogramme für Einsteiger nicht zu empfehlen seien. Häufig, so sagte er dem DZSM, komme es „schnell zu Überlastungen und Verletzungen.“

Also nicht nutzen? Nun ja, wir sind aufgeklärte Menschen und sollten selbst entscheiden können, was wir tun und lassen. Aber eines dürfte klar sein: Wer es über Jahrzehnte nicht geschafft hat, seine Trägheit zu überwinden und Sport zu treiben (im Verein, mit Freunden oder einfach wenn Zeit ist), der wird auch mit Hilfe von sogenannten Self-Tracking-Geräten seine Einstellung zu Sport und Fitness nicht grundlegend ändern können. Und wer aufhört, auf seinen Körper zu hören, der hört irgendwie auch auf, Mensch zu sein.

Von Rainer Wittmann

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