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Urlaub 2016 - Foto (C): Rainer Wittmann
Urlaub 2016 - Foto (C): Rainer Wittmann

Müßiggang. „Ein grandioses Versprechen von Freiheit“

Vor mir auf dem Schreibtisch liegen heute zwei Texte. Sie stammen aus dem Archiv. Der eine ist aus der Süddeutschen. Der kurze Titel „Leinen los“ plädiert für Freiheit und Abenteuer. Der andere, „wider die Ratlosigkeit“ möchte  mir sagen, dass Müßiggang „unabdingbare Voraussetzung für einen gelungenen Aufbruch“ sei. Ich merke was. Ich merke, dass ich viel zu oft und immer häufiger einfach nur noch funktionieren muss. So wie jeder andere auch. Wir sind getaktet. Geboren, um einen wie auch immer gearteten Dienst für das System zu leisten und irgendwann die Stafette an den nächsten zu geben. Als „Imperativ des bedingungslosen Immerweiter“ beschreibt der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann diese in aller Stille hingenommene Lebensform und bedauert wohl, dass für tiefergehende Zäsuren kein Platz mehr sei. Denn die Moderne hätte „aus der Arbeit eine Tugend“ und den Müßiggang zum „Anfang aller Lasten“ gemacht.

Recht hat er, denke ich mir während ich aus dem Fenster sehe und den düsteren „Himmel 2016“ auf mich wirken lasse. Depressiv? Nein. Denn gleich neben den beiden Artikeln aus dem Archiv liegt mein Terminkalender. Da steht „Urlaub“ drin. Nichts Pauschales, nichts aus der Konserve, nichts Durchorganisiertes. Nein, so wie‘s früher war: Einfach drauf los und schauen was kommt, ohne Ziel.

Wieviel Freiheit lässt man eigentlich seiner Freiheit?

Vier bis sechs Wochen Urlaub im Jahr. Standard. Der Rest: Reagieren, Funktionieren. Grob kalkuliert verbringen wir also 80 Prozent unseres Lebens damit, im Wettbewerb mit anderen und mit uns selbst zu stehen. Rein rechnerisch bleiben uns also 20 Prozent zur freien Verfügung. Das klingt schwer nach Vilfredo Pareto, aus dessen einst zur Wahrscheinlichkeitsberechnung entwickelten Prinzip eine neue Art von Lebensphilosophie entstanden ist. Trivial erklärt: Mit 80 Prozent Leistung erreicht man genauso viel wie mit 100 Prozent. Jedoch bleibt bei ständig laufendem Motor keine Zeit zur Regeneration.

Und darum geht es doch. In einer Zeit, in der wir schwere Arbeit Maschinen überlassen und unsere Welt digital definieren, sollte man eigentlich meinen, vieles müsste einfach geworden sein. Und dennoch hat Muße anscheinend keinen großen Stellenwert mehr. Ich schaue nochmals auf das Essay von Professor Liessmann. Wir sollen das „Innehalten neu lernen“, plädiert er und stellt sich die Frage: „Warum sind wir Gehetze, obwohl mehr Menschen denn je ihrem Leben eine Gestalt geben könnten, in der die Muße eine gleichermaßen befreiende wie produktive Rolle spielen könnte?“ Liessmann fordert einen Aufbruch, sein Leben neu zu definieren. Es geht darum, seiner Freiheit auch wirklich die Freiheit zu lassen, die sie braucht.

Müßiggang: Vor allem im Urlaub

Urlaub darf kein Wettbewerb sein. Weder mit sich selbst, noch gegen andere. Urlaub darf auch nicht darauf hinaus laufen, alles Angebotene mitnehmen zu müssen: Von A nach B nach C und am besten täglich über Los!

Stop! „Große Ferien, das war einmal ein grandioses Versprechen von Freiheit“, steht in dem Artikel aus der Süddeutschen. „Einmal hatte ich hinter einer Klippe eine dicke Muschel aufgetan, sie war größer als meine Hand und so fest verschlossen wie ein Schraubstock. (…) Meine Mutter musste sie (…) auf dem Herd auskochen, erst danach konnten wir die stinkende Trophäe zusammengeschnürt in einer Plastiktüte nach Deutschland schmuggeln.“ Mich fasziniert diese Erzählung. Sie ist schön.  Mein Kollege hat mir damit schon vor einer Stunde ein schönes Bild in meine Gedanken gemalt. Noch vor wenigen Jahren spielte Zeit keine Rolle. „Das Freiheitsversprechen galt für alle in der Familie, es war eine Art stiller Pakt.“ Und was ist es heute? Heute muss alles organisiert sein. Wochen vor der Reise, während des Urlaubs und am Besten gleich danach, denn der nächste Urlaub kommt bestimmt.

Heute muss es immer mehr sein: Monsterrutschen, Achterbahnen, Animationsprogramme, Illusionen. Geld dafür ist da – muss weg! Und weil alle so aufgedreht sind, gibt‘s ein paar Cent mehr noch ein Entspannungsprogramm auf der digitalen Leinwand. Wir haben‘s ja. Und wir haben ja Urlaub, oder nicht?

Müßiggang ist nicht auf Knopfdruck zu verwirklichen. Was Sie dafür brauchen ist vor allem ausreichend Zeit. Phasen absichts­lo­sen Nichtstuns be­deu­ten Lebens­ener­gie. Sie fördern nicht nur die Regeneration und stärken das Gedächt­nis, sondern sind auch die Voraussetzung für Ein­falls­reichtum und Kreativität. Wir wünschen Ihnen für Ihren Urlaub 2016 viel Zeit für neue, große Ideen.

Rainer Wittmann